Kein Ende in uns

Abschied von Erwin Kisser

 

Ich habe nie vorher in meinem Leben jemanden getroffen und später kennen gelernt, der so über das ganze Gesicht lächeln konnte wie er, der eine Ruhe ausgestrahlt hat, daß unvorstellbar war, es könnte ihn jemals irgend etwas aus der Fassung bringen. Erwin Kisser war für mich ein Freund weit über unsere später sich nur noch manchmal kreuzenden Wege hinaus, keiner, den man ständig trifft, dem man seine Sorgen und Nöte über ein allernotwendigstes Maß hinaus mitteilen würde, schon deshalb nicht, weil die Abstände zwischen der einen und anderen zufälligen Begegnung zu groß sind, um sich mehr als das Wichtigste zu erzählen, er war jemand, mit dem einen einzigartige Erfahrungen verbinden, die sich nie mehr in einer ähnlichen Weise wiederholt haben oder wiederholen hätten lassen.

 

Er hat gemeinsam mit Gustav Ernst, Peter Turrini, Johanna Tomek, Werner Schönolt, mir und anderen* mit der Gründung der Konfliktkommission Theater für die größte Beunruhigung gesorgt, die jemals von wem für die Wiener Kulturverwaltung ausgegangen ist.

 

Die Konfliktkommission Theater hat zwei Jahre lang keine Gelegenheit ausgelassen, der Wiener Kulturverwaltung und deren Repräsentationstheaterpolitik ihre Ideen eines selbstverwalteten Theaters mit Symposien, Publikationen und Konzepten entgegenzusetzen. Sie hat einen Kulturfriedhofsbesuch mit den entsprechenden Ausstattungsgegenständen zum geschlossenen und verwaisten Wiener Künstlerhaustheater unternommen, sie hat zu einer ersten öffentlichen Beiratssitzung des Freien Theaterbeirats eingeladen, die keine öffentliche Beiratssitzung war und für volle Gänge im Wiener Kulturamt und für eine empörte Wiener Kulturstadträtin gesorgt, sie hat auf Büttenpapier zur Galapremiere des Konfliktfreien Theaters am Platz vor dem Wiener Künstlerhaustheater gebeten, bei der etliche der eingeladenen Gäste erst an Ort und Stelle den Unterschied zwischen einer Galapremiere eines Freien Theaters und eines festen Hauses bemerkt haben: die Galapremiere fand auf einer auf ein Podest gestellten Pappendeckelbühne auf der Straße vor dem wegen Sozialkostenverschuldung geschlossenen Wiener Künstlerhaustheater statt. Die Konfliktkommission Theater war die Stimme des Freien Theaters in seiner stimmlosen Zeit, vor der Gründung der heutigen IG Freie Theaterarbeit 1988, für die sie der Motor war.

 

Eine andere unwiederholbare Gemeinsamkeit zwischen ihm und mir hat in einer Wette um einen Auftritt bestanden, vor dem Ende seiner Tätigkeit als Kulturredakteur bei der Volksstimme 1988 und dem Ende der Volksstimme 1990, durch die ich vermutlich zum einzigen von der Volksstimme in ihren 45 Erscheinungsjahren je gezeigten Nackten wurde. Ich hatte die Wette mit Erwin Kisser zwar verloren, daß die Prüderie der Volksstimme keine Nacktheit zulassen würde, und er hatte die Wette gewonnen, wenn auch nur mit einer sehr kleinen zur Ankündigung eines Symposions über Sexualität, Sinnlichkeit und Pornographie von mir veröffentlichen Nacktaufnahme, den unbezahlten Auftritt, den ich an ihn verloren hatte, bezahlte er trotzdem. Und den Auflauf, für den wir bei unserem befreundeten Schriftstellerverband in der damals noch existierenden DDR gesorgt hatten, in der die Volksstimme als einzige österreichische Tageszeitung gelesen werden konnte, bekamen wir als Geschenk dazu.

 

So lange ich mit ihm etwas zu tun hatte und so oft ich mit ihm etwas zu tun hatte, auch wenn es ihm noch so wichtig und ein großes Anliegen war, er hat sich in nichts verbissen und trotzdem nie etwas aus den Augen verloren oder unversucht lassen. Er hat sich an Vereinbarungen gehalten und Entscheidungen auch dann mitgetragen, wenn es kompliziert wurde. Er war eben mehr als nur jemand, mit dem man das eine oder andere gemeinsam haben konnte, er war einfach da, ein Rückhalt, jemand, auf den Verlaß war. Ihm mußte kein Unrecht erst bewiesen werden, er hat es erkannt, auch im eigenen Umfeld.

 

Er hat zu einer Zeit, 1984, das Jahr, in dem der Überwachungsstaatsroman von George Orwell spielt, eine 40teilige Artikelserie von Hannes Vyoral und mir in der Volksstimme initiiert und betreut, „Seins-fiction – Zur Einführung neuer Medien- und Informationstechnologien in Österreich“, und mit Fortdauer der Veröffentlichung der Serie die Serie gegen eine immer größer werdende ideologische Mißstimmung in seiner Zeitung verteidigen müssen, bevor sie auf Weisung des Chefredakteurs gegen Ende zu schließlich doch eingestellt werden mußte, mit der er, soweit sie eben erscheinen konnte, 10 Jahre vor der allgemeinen Wahrnehmung der großen Umwälzungen auf dem Mediensektor durch die Digitalisierung für die Thematisierung der Neuen Medienentwicklungen sorgte, als jenseits der Publizistikinstitute noch nirgendwo von Neuen Medien die Rede war.

 

Wir haben uns bei unseren späteren zufälligen Zusammentreffen jedes Mal gefreut, daß wir uns noch immer über gemeinsame Interessen und Anliegen, er als Journalist für den Teletext und den Niederösterreich-Kurier, ich als Interessenvertreter, verständigen konnten. Daß es nicht mehr so häufig der Fall war und nie mehr zu einem so intensiven Austausch zwischen uns wie in den 1980er Jahren kam, hatte einen einfachen Grund, er war zu sehr Journalist und der dramatischen Form verhaftet, um sich nebenbei auch noch stärker mit anderen Angelegenheiten, mit denen ich beschäftigt war, zu befassen, ich war zu sehr Interessenvertreter und Buchautor, um es zu Überschneidungen mit seinen Tätigkeitsgebieten zu bringen.

 

Vielleicht hätte man da oder dort und dann und wann mehr eine Unterstützung für ihn sein sollen, aber das ist bei einem und für einen, von dem man es gewöhnt bzw. der es gewöhnt war, alles selbst in die Hand zu nehmen, ausgeschlossen. Ich weiß nicht, wieviel Lust er zum Schreiben seiner für den Verein für Konsumenteninformation und für die Zeitschrift „Konsument“ verfaßten Bücher und wieviel er zum Schreiben seiner journalistischen und dramatischen Texte hatte, ich habe aber nie einen anderen als professionellen Umgang von ihm mit dem Schreiben erlebt.

 

Es ist anzunehmen, der Literatur hat seine ganze Liebe gegolten, genauer, der dramatischen Literatur, der dramatischen Form, dem Theater, dem er sich von allen Seiten genähert hat. Wieviel er von seinen Schreibvorlieben ausgelebt hat, was sich für ihn überlebt, was sich eingelöst hat, wieviel für ihn offengeblieben ist, wir werden es nicht mehr direkt von ihm, aus seinem eigenen Mund erfahren. Seine Träume waren größer, sein größter Traum war die Insel, auf der man dichtend und schreibend sein Leben verbringt. Es gab diese Aufbrüche von ihm zu einer solchen Insel und es gab eine solche Insel für ihn auch in Wien, gleich bei mir um die Ecke in seiner Wiener Wohnung in der Glasergasse, und trotzdem oder wahrscheinlich gerade deshalb sind wir uns in unserem Heimatbezirk nie über den Weg gelaufen.

 

Erwin Kisser war, wie alle seiner Generation, die es genauer wissen wollten und es genau genommen haben, ein Nachgeborener, der auf diejenigen folgte, die den Boden für Freundlichkeit bereiten wollten und selbst nicht freundlich sein konnten. Er ist der Aufforderung des Dichters, von dem diese Zeilen stammen, Bert Brecht, zur Nachsicht gegenüber seinen nichtfreundlichen Vorgängern, die freundlich sein wollten, es aber nicht sein konnten, nicht nur nachgekommen, er hat sich die Freundlichkeit, für die der Boden bereitet war, angeeignet. Verschmitzt wäre eine mögliche Bezeichnung für sein Lächeln, die aber genauso nicht zutrifft, wie jede andere bekannte Bezeichnung, dazu war alles zu sehr an ihm davon erfaßt.

 

Ich würde es gerne nicht sagen, es gibt aber keine andere Möglichkeit mehr, es auszudrücken: Mit Erwin Kisser verbindet mich eine Freundschaft über den Tod hinaus.

 

Wir können entweder glauben, daß nach unserem Ende nur das Ende ist und sonst nichts, oder wir können glauben, es geht nur unser weltliches Ende zu Ende, aber ein anderes, von dem wir nichts wissen, nicht, und etwas Neues beginnt, aber wir können wissen, in uns hat er kein Ende gefunden und in uns wird er auch keines finden.

 

 

Lieber Erwin! Danke für alles.

 

Gerhard Ruiss

Mauerbach, 29.1.2013

 

* Die weiteren Mitglieder der Konfliktkommission Theater waren: Reinhard Auer, Ulf Birbaumer, Didi Macher, Erhard Pauer, Heinz R. Unger, Hannes Vyoral und Arthur West.